Leihseligkeiten

Was wir haben, hat die Welt uns nur geliehen. Wir gehen und geben es zurück, das meiste gut erhalten, eine Stelle weiterrückend auf der Zufallsuhr. Die Vernutztheit unsrer Lebens-Dinge – Tinte auf Papier, Talg auf einer Sessellehne, von Zähnen eingekerbte Spuren an einem Löffel – ist das, was die Physik von uns bewahrt. Unsre Fußspur in der Brandung, zwei Atemzüge Ewigkeit tief. Abrieb im Inneren des Stundenglases, dort, an seiner engsten Stelle, wo wir mit allem, was wir sind, hindurchmüssen. Und nur das, was wir nicht sind, ein Negativ unseres klarsten Lächelns, bleibt zurück.

Gothic Beat
Kein Manifest

I

 

Wer Manifeste schreibt, hält das eigene Programm für überlegen. Und wer das eigene Programm für überlegen hält, verbrämt damit seine Unkenntnis sowohl unzähliger anderer Programme wie auch der Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen. Denn es ist unmöglich, der Wirklichkeit mit nur einem Programm gerecht zu werden.

Wäre es möglich, mehrere empirische Perspektiven gleichzeitig einzunehmen, müsste dies jeder tun, der nicht nur für sich allein zu sprechen beansprucht. Da es nicht möglich ist, kann man sich nur zu einer Einzelsicht neben anderen bekennen.

Die eigene Sicht ist das, was ich notwendig gut und deutlich wahrnehme. Dieser subjektive Splitter der Welt ist mein Beitrag zum Mosaik des Objektiven.

Das literarische Kunstwerk, das vom sprechenden Individuum ausgeht, kann nie objektiv sein. Es gibt kein Erzählen a priori. Besser als alle anderen Künste aber kann Literatur multiperspektivisch sein in der Summe aller Stimmen, die sie abbilden und kommentieren kann zugleich. 

Jede Stimme hat eine Perspektive und damit jeder Sprecher eine Haltung zur Welt. Diese Haltung kann einen erzählerischen Ton begründen, eine stilistische Geste, ein Genre.

Jede stilistische Geste und jedes Genre ist ein Netz, in dem eine Erfahrungswelt besser als in irgendeinem anderen eingefangen werden kann.

 

II

 

Gothic Beat ist ein dem Okzident des 21. Jahrhunderts zugeordnetes ästhetisches Programm.

Gothic Beat erzählt die Krankengeschichte der westlichen Werte. Er umkreist die Morbidität der Freiheit, die Provinzialität der Wahrheit und die Minimalismen des Menschlichen.

Gothic Beat ist realistisch in der Beobachtung, transrealistisch in der Spekulation und phantastisch in der Freiheit der Mittel.

Dabei ist Gothic Beat jederzeit und kompromisslos reizvoll, musikalisch, amüsant und immer auf Wirkung komponiert.

Wäre Gothic Beat ein Getränk, wäre es ernüchternd und alkoholisch zugleich.

Gothic Beat ist ein pink-schwarzer Cocktail aus Logik, Kokain und Katholizismus. Er ist schlüssig, destruktiv und transzendent; universell, psychotrop, apokalyptisch; essayistisch und grotesk.

Gothic Beat zeigt, singt, erzählt und kommentiert zugleich. Gerade weil Unterscheiden schwierig ist, erfordert es alle rhetorischen Mittel.

Gothic Beat sucht keinen Anschluss – er ist ein Ausschlussverfahren: nicht das Gewohnte, nicht das Gewinnende, nicht das Gewisse und nicht das Geschwätzige.

Gothic Beat gehört nur einer Bewegung an: der Weltflucht.

Weltflucht ist eine komplexe ästhetische Strategie, die Erkenntnis ebenso voraussetzt wie eine Alchemie aller verfügbaren Mittel und den Mut zum ruinösen Selbstversuch.

Die Vernunft des Gothic Beat ist eine mit sich selbst zerstrittene Vernunft.

Der Tod ist das stumme, unwiderlegbare Argument wider alle Argumente.

Gothic Beat bezieht nukleare Energie aus der Verschmelzung mit dem Nichts. 

Die Ironie des Gothic Beat ist ernst gemeint.

Die Metaphern des Gothic Beat sind Richtigstellungen der Metaphern, die uns umgeben.

Gothic Beat ist die Diktatur der Differenzen.

Gothic Beat formuliert Probleme auf eine Art, die jede Lösung widerlegt. 

Gothic Beat ist der Feuersturm, der die Konzepte Heimat, Sitten, Heil und Utopie wie Papierflieger zerstäubt.

Ahnen des Gothic Beat sind Byron, Blake, Baudelaire, Benn, Borges, Burroughs und Bolaño.

Gothic Beat ist das genaue Gegenteil aller Manifeste, Appelle, Ideale und Moral.

Gothic Beat ist auch nicht mit sich selbst versöhnlich.

Das Ideal des Gothic Beat ist der Witz, den einer macht, während er den Hals unter das Fallbeil legt.

Jeder Satz sollte ein guter letzter Satz sein, um ein guter Satz zu sein.

 

FUGAMUNDI, 1. Band: Gothic Beat

Maupassant

 

Maupassant lief fünftausend Meter in fünfundzwanzig Minuten,

wanderte sechzig bis achtzig Kilometer an einem Tag und

schoss auf einer Jagd siebenunddreißig Rebhühner.

Er schwamm sechs Kilometer und zog insgesamt elf

Leichen aus der Seine.

Maupassant hielt Hunde, Katzen, Goldfische, Hühner, Papageien, Schildkröten

und lernte drei- bis vierhundert Frauen intim kennen und vergessen.

An einem Pariser Abend hatte er siebzehn Einladungen.

Er schrieb täglich drei Stunden und sechs Druckseiten,

eine zweiundsiebzigseitige Novelle in vier Tagen 

ohne eine einzige Korrektur.

Maupassant publizierte in zwölf Jahren achtundzwanzig Bände

sechsundzwanzigtausend Seiten (ohne die Zeitungsartikel)

verdiente an seinen Rechten achtundzwanzigtausend Francs

jährlich und erreichte in vier Monaten neununddreißig Auflagen.

 

(Maupassant sagte von sich: 

                   Ich empfinde die betrügerische Infamie des 

                     Lebens wie sie nur je einer empfunden hat.)

 

2004 erschienen in Frank T. Zumbach (Hg.): Das Balladenbuch, Artemis & Winkler

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